Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert waren die beiden Dörfer Endingen und Lengnau, im Surbtal zwischen Baden und Zurzach 30 km von Zürich entfernt gelegen, die einzigen Orte in der Schweiz, wo jüdische Menschen sich dauernd niederlassen und Gemeinden bilden durften.

„Fremde Schutzgenossen“

Die Dörfer gehörten in dieser Zeit zur Grafschaft Baden, einem Untertanengebiet der Eidgenossenschaft, und wurden von einem eidgenössischen Landvogt regiert. Der Landvogt und die Tagsatzungsabgeordneten hatten grosses Interesse, dass Juden sich hier ansiedelten, konnten sie doch von ihnen Schutzgeld, Abgaben und Geleitgelder kassieren. Die Surbtaler Juden mussten alle 16 Jahre ihre Aufenthaltsbewilligung, einen sogenannten Schutz- und Schirmbrief, wieder neu erlangen. Der Brief regelte die Niederlassungsbedingungen und die Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt. Im Berufs- und Sozialleben waren die Surbtaler Juden stark eingeschränkt: Sie waren lediglich „fremde Schutzgenossen“, durften kein Handwerk ausüben, keinen Boden besitzen und keine Bauern sein. Sie durften sich nur im Handel betätigen und Märkte besuchen. Die meisten waren sehr arm und fristeten ihr kärgliches Leben mit dem Handel von Tüchern, Bändeln, Fellen und Häuten, waren Marktfahrer, Hausierer und Lumpensammler. Die wenigen Begüterten handelten mit Vieh und Pferden. Einige vermittelten auch Liegenschaften oder liehen Geld. Juden durften keine Häuser besitzen, die Anzahl ihrer Wohnstätten wurde begrenzt, und Juden und Christen durften nicht unter einem Dach wohnen. Als pragmatische Lösung wurden Häuser mit zwei nebeneinander liegenden Eingängen gebaut, einem für Christen und einem für Juden.

Autonomie

Im Gemeinde- und religiösen Leben hingegen hatten die jüdischen Dorfbewohner grosse Autonomie. Die Obrigkeit mischte sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten ein. Die Gemeindeversammlung wählte den Gemeindevorstand, den Kassier und andere Beamte. Der Rabbiner übte die Zivilgerichtsbarkeit nach jüdischem Recht aus. Er war daher nicht nur für kultisch-religiöse Belange zuständig, sondern amtete auch als Notar und Zivilstandesbeamter. Die Autonomie brachte aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten: Die jüdischen Gemeinden mussten sowohl für die Versorgung und Unterstützung der Armen und Waisen wie auch für den Kultus und das Schulwesen selbst aufkommen.

Synagogen

Im Jahr 1750 erhielten die Surbtaler Juden die Erlaubnis, in Lengnau eine Synagoge zu bauen und auf halbem Weg zwischen Endingen und Lengnau einen Friedhof anzulegen. 1764 wurde ihnen auch der Bau einer Synagoge in Endingen gestattet. Damit konnte die bauliche Infrastruktur für ein jüdisches Gemeindeleben geschaffen werden.

Abwanderung

Von 20 jüdischen Haushalten um 1634 wuchs die jüdische Bevölkerung in den Dörfern bis 1850 auf 1’000 Personen in Endingen und 500 in Lengnau (die Hälfte bzw. ein Drittel der Dorfbevölkerung) an. Zu dieser Zeit wurden auch die Synagogen gebaut, die heuten noch stehen. Nach der Gleichberechtigung der jüdischen Menschen in der Schweiz (1866 auf Bundesebene, 1879 im Kanton Aargau) erfolgte eine rasche Abwanderung. Heute leben weniger als 30 jüdische Personen im Surbtal.

Surbtaler Jiddisch

Untereinander verständigten sich und schrieben die Surbtaler Juden auf Jiddisch. Zusammen mit dem Elsässer Jiddisch gehört das Surbtaler Jiddisch zu den westjiddischen Dialekten. Heute spricht fast niemand mehr diesen Dialekt.

Nicht wenige der heute in der Schweiz ansässigen jüdischen Familien haben ihren Herkunfts- und häufig auch Bürgerort im Surbtal. Die bekanntesten Familiennamen sind Bernheim, Bloch, Bollag, Braunschweig, Dreifuss, Gideon, Guggenheim, Meyer, Moos, Oppenheim, Schlesinger, Weil und Wyler. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten gehören der Maler Varlin (Willi Guggenheim), der Schriftsteller Kurt Guggenheim, der Filmproduzent William Wyler, die aus Lengnau in die USA ausgewanderten Guggenheims und die frühere Bundesrätin Ruth Dreifuss.

Seit 2009 können Besucher in den Dörfern dem „Jüdischen Kulturweg Endingen-Lengnau“ folgen, der sie zu den baulichen Zeugen der jüdischen Vergangenheit und 21 Informationsstelen führt.

Autor

Ralph Weingarten, 2009

Literatur

Edith Hunziker, Ralph Weingarten: Die Synagogen von Lengnau und Endingen und der jüdische Friedhof. Schweizerischer Kunstführer, Serie 78, Nr. 771-772.

Jüdisches Kulturgut in und aus Endingen und Lengnau. Heidelberg, 2008.

Flyer Jüdischer Kulturweg Endingen-Lengnau. Aargauer Heimatschutz 2009.

Rechtlicher Hinweis: Dieses Factsheet darf gesamthaft oder auszugsweise mit dem Hinweis «SIG Factsheet» zitiert werden

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