Das jüdische Recht ist ein umfassendes und verbreitetes Recht, das bis in die heutige Zeit ohne Unterbruch zur Anwendung gelangt. In allen Ländern, in denen – wie z.B. in der Schweiz - die Anwendung religiösen Rechtes nicht Teil der staatlichen Rechtsordnung ist, kann das jüdische Recht in der Praxis nur in engen Grenzen neben oder anstelle staatlichen Rechts Anwendung finden.

Doch nicht nur das staatliche Recht setzt dem jüdischen Recht Schranken. So hat das jüdische Recht selbst eigene Rechtsgebiete ausser Kraft gesetzt wie z.B. das jüdische Strafrecht (heute ist nur noch der „Cherem“, d.h. die Exkommunikation möglich), oder das jüdische Recht schreibt selbst vor, staatliches Recht anstelle der Normen des jüdischen Rechts anzuwenden. In diesem Zusammenhang ist der Grundsatz von „Dina deMalchute Dina“ (dt. Landesrecht ist Recht) zu erwähnen, welcher die meisten zwingenden Normen des staatlichen Rechts nach jüdischem Recht für anwendbar erklärt. „Dina deMalchute dina“ hält fest, dass staatliches Recht verbindlich ist, sofern es im finanziellen Interesse der Regierung (vgl. Schulchan Aruch, Ch. M., Kap. 369 § 6 und § 11) oder generell im Interesse der staatlichen Bevölkerung (Rema zu Schulchan Aruch, a.a.O.) erlassen worden ist und nicht gegen Verbotsnormen des jüdischen Rechts verstösst (Schach § 39 zu Schulchan Aruch, Ch. M., Kap. 73).

Auch zu erwähnen ist der Grundsatz „Kol Tnaj schebemamon kajam“. Dieser besagt, dass im Schuldrecht alle Bedingungen Bestand haben. Erwähnenswert ist auch der Grundsatz „Minhag hasochrim“. Dieser besagt, dass der Handelsbrauch verbindlich ist. Diese Grundsätze gelten, so lange sie nicht irgendwelchen Verbotsnormen des jüdischen Rechts entgegenstehen (vgl. hierzu Responsen Igerot Mosche, Ch. M., 1, 72). Bei rein schuldrechtlichen Fragen wird das jüdische Recht deshalb in der Regel zu einem ähnlichen Resultat gelangen wie das staatliche Recht.

Besonders Rabbinatsgerichte wenden jüdisches Recht an. Sie werden in folgenden Gebieten häufig angerufen, weil diese entweder reine religionsrechtliche Fragen betreffen oder aber Gebiete, in denen eine freie Rechtswahl zulässig ist:

  • Für die Entscheidung von religiösen Fragen, so z.B. für Religionsübertritte oder Koscher- Zertifikate.
  • In gewissen familienrechtlichen Fragen, so z.B. religiöse Heirat und Scheidung. Die religiöse Trauung erfolgt durch Rabbinatsgerichte und kann in der Schweiz erst nach der Ziviltrauung erfolgen. Die religiöse Scheidung erfolgt auch durch Rabbinatsgerichte. Die zivile Scheidung, die in unserem Land zur Auflösung der Ehe erforderlich ist, hat im religiösen Bereich keine Wirkung. Umgekehrt hat die religiöse Scheidung auf den zivilen Status auch keine Auswirkung. Möchte einer der Partner wieder religiös heiraten, so muss er auch religiös geschieden sein.
  • Als Schiedsgerichte zur Entscheidung von zivilrechtlichen Streitigkeiten. Es kommt vor, dass die Parteien es vorziehen, einen Zivilstreit nicht vor ein staatliches Gericht zu tragen, sondern vor ein rabbinisches Gericht. Die Anzahl der in der Schweiz vor rabbinischen Schiedsgerichten ausgetragenen Zivilstreitigkeiten kann auf zehn bis zwanzig pro Jahr geschätzt werden.

Rabbinische Schiedsgerichte fallen nicht unter das Verfassungsverbot der geistlichen Gerichte, welches früher ausdrücklich in Art. 58 Abs. 2 altBV formuliert war und noch heute Geltung hat. Das Verbot untersagt dem Staat nur, ein geistliches Gericht verbindlich einzusetzen oder sein Urteil in einem Rechtsbereich anzuerkennen, welcher dem Staat ausschliesslich vorbehalten ist. Das rabbinische Schiedsgericht hingegen ist vom Staat nicht verbindlich eingesetzt, sondern kommt erst zum Zug, wenn die Parteien dies freiwillig vereinbart haben. Urteilt das rabbinische Schiedsgericht in einem Rechtsbereich, welcher der Schiedsgerichtsbarkeit zugänglich und somit dem Staat nicht ausschliesslich vorbehalten ist, so ist die rabbinische Schiedsgerichtsbarkeit aus der Sicht des Staates als gültiges Schiedsgericht anzuerkennen.

Lässt der Staat die Parteien ein Schiedsgericht nach eigenem Recht bilden und dieses nach eigenem Recht das Verfahren führen, so ist darin auch die Freiheit enthalten, die Entscheidungsgrundlage frei zu wählen. Die Parteien dürfen deshalb nach staatlichem Recht die Billigkeit ausdrücklich als Entscheidungsgrundlage wählen. Umso mehr müssen sie auch jüdisches Recht wählen dürfen, denn jüdisches Recht räumt den Richtern weniger Ermessen ein und bietet somit den Parteien mehr Voraussehbarkeit und Rechtssicherheit. Das rabbinische Schiedsgericht kann daher jüdisches Recht als Entscheidungsgrundlage anwenden.

Auch bei Verfahren vor Rabbinatsgerichten kann eine richterliche Behörde für die Mithilfe und Unterstützung angerufen werden. Dies z.B. zur Unterstützung bei der Bildung des Schiedsgerichts; zur Mitwirkung bei der Durchführung einer Beweismassnahme; um das Urteil zu hinterlegen oder zuzustellen; die Vollstreckbarkeit zu bescheinigen oder über eine Nichtigkeitsbeschwerde oder ein Revisionsgesuch zu entscheiden. In diesem Fall wird die richterliche Behörde im Weiteren immer prüfen müssen, ob die zwingenden Prozessvoraussetzungen des Schweizer Rechts vorliegen. Sind nicht alle zwingenden Prozessvoraussetzungen erfüllt, so ist die Mitwirkung oder Mithilfe zu versagen.

Die Anwendung jüdischen Rechts und die Einsetzung rabbinischer Schiedsgerichte sind somit nur dort möglich, wo das Schweizer Recht dies zulässt. Zudem führen die jüdischrechtlichen Vorschriften wie z.B. „Dina deMalchute Dina“ dazu, dass regelmässig sogar nach jüdischem Recht zwingende Normen des staatlichen Rechtes angewendet werden müssen.

Autor

Dr. jur. Alfred Strauss, 2010

Literatur

Strauss, Alfred: Das rabbinische Schiedsgericht im Lichte des schweizerischen Rechts, Helbing & Lichtenhahn, 2004

Rechtlicher Hinweis: Dieses Factsheet darf gesamthaft oder auszugsweise mit dem Hinweis «SIG Factsheet» zitiert werden

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