Der Begriff „Gründerzeit“ bezeichnet allgemein die wirtschaftliche Wachstumsphase zwischen den 1848er Revolutionen und der grossen Börsenkrise von 1873. In dieser Zeit übernahm in Westeuropa das Bürgertum die kulturelle und teilweise die politische Führung. In Anwendung des Begriffs auf das schweizerische Judentum kann damit die Epoche zwischen rechtlicher Gleichstellung der Juden und dem Ende des Ersten Weltkriegs benannt werden. In diesem halben Jahrhundert wuchs die jüdische Bevölkerung der Schweiz durch Zuwanderung aus dem grenznahen Ausland, später auch aus Osteuropa rasch an, so dass es zu verschiedenen Neugründungen jüdischer Gemeinden kam. Der wirtschaftliche und politische Liberalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bewirkte einen sozialen Wandel der jüdischen Bevölkerung in der Schweiz. Das Aufblühen jüdischen Lebens rief zugleich auch antisemitische Reaktionen wie das Schächtverbot hervor.

Rechtlicher und sozialer Wandel

Im internationalen Vergleich spät und erst auf ausländischen Druck insbesondere Frankreichs, der Niederlande und der USA gewährte die Schweiz 1866 den Juden die freie Niederlassung. Die Kultusfreiheit wurde erst in der revidierten Bundesverfassung von 1874 verankert, und die Juden der beiden Aargauer Gemeinden Endingen und Lengnau mussten gar bis 1879 warten, bis sie das Ortsbürgerrecht erhielten. Nach dieser „verspäteten Emanzipation“ kam es zu einem raschen und grundlegenden Wandel im schweizerischen Judentum. Liberale Zulassungsbestimmungen und umfassende Freizügigkeit im internationalen Personenverkehr erleichterten die Migration über die Grenzen hinweg.

Wachstum

Die jüdische Bevölkerung der Schweiz wuchs zwischen 1850 und 1920 um das Fünffache auf rund 21’000 Personen an. Dies entsprach etwas mehr als 0,5% der Gesamtbevölkerung, damals ein im internationalen Vergleich eher bescheidener Anteil. Dieser Prozentsatz sollte bis in die Gegenwart nicht mehr übertroffen werden. Gleichzeitig wurden im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert verschiedene neue jüdische Gemeinden gegründet, so dass die Schweiz am Ende des 1. Weltkriegs 25 jüdische Gemeinden zählte. Mit der zunehmenden Zahl der Juden in die Schweiz entfaltete sich auch ein reiches jüdisches Vereinsleben mit sozialen, sportlichen und kulturellen Organisationen.

Verstädterung

Die rechtliche Gleichstellung, der rasante wirtschaftliche Wandel der damaligen Epoche sowie das sprunghafte Anwachsen der Städte boten Jüdinnen und Juden vielfältige neue berufliche Chancen, so dass sich zugleich die agrarische Berufsstruktur in eine urbane wandelte. Bereits 1910 lebten über zwei Drittel aller Juden in den städtischen Zentren von Zürich, Basel, Genf und Bern. Zahlreiche Juden traten als Unternehmer in Erscheinung. Neben ihrer Rolle bei der Gründungen einzelner Privatbanken hatten die Juden einen beachtlichen Anteil bei der Entwicklung der schweizerischen Textil- und Uhrenindustrie sowie später bei der Gründung von Warenhäusern. Wirtschaftlicher Erfolg, sozialer Aufstieg und gesellschaftliche Anerkennung konnten in einem Mass und Tempo erlangt werden, wie es Jahre zuvor noch nicht für möglich gehalten worden war. Die jüdische Bevölkerung engagierte sich ebenso im Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsleben der Schweiz sowie vereinzelt in der Politik. Auch die Zionisten konnten von dieser liberalen Haltung profitieren, als sie sich entschieden, 1897 in Basel ihren ersten Kongress abzuhalten.

Schächtverbot und Antisemitismus

Die staatsbürgerliche Gleichstellung und der gesellschaftliche Aufstieg der Juden stiessen bei einem Teil der Schweizer Bevölkerung auf Ablehnung. Immer wieder kam es zu antisemitischen Vorfällen, so etwa bei den Diskussionen um die Verstaatlichung in Konkurs geratener Eisenbahnen. Doch keine andere Frage belastete das Verhältnis von Christen und Juden in der Schweiz zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende so sehr wie die Schächtverbotsinitiative von 1893. Das Verbot, das das Schlachten der Tiere nach den Vorschriften der jüdischen Religion mit einem Halsaderschnitt untersagte, stellte den Versuch dar, mittels eines Tierschutzartikels die Kultusrechte der jüdischen Minderheit wieder einzuschränken. In der Volksabstimmung vom 20. August 1893 wurde das Schächtverbot mit einem deutlichen Volksmehr von 191’527 Ja- zu 127’101 Neinstimmen und einem knappen Ständemehr von 11,5 zu 10,5 gegen den Willen von Bundesrat und Parlament angenommen. Bei dieser ersten vom Souverän angenommenen Initiative überhaupt handelte es sich um einen Disziplinierungsversuch der jüdischen Minderheit durch die christliche Mehrheitsgesellschaft. Bereits im Vorfeld der Abstimmung war die Schweiz von einer heftigen antisemitischen Welle ergriffen worden, die auch nach der Jahrhundertwende noch Wirkung zeigen sollte. Mit dem Erfolg der antisemitisch motivierten Volksinitiative war das Thema noch nicht vom Tisch. In den folgenden Jahren versuchten verschiedene Kantone auf gerichtlicher Ebene, das Schächtverbot, das sich auf das Grossvieh beschränkte, auch auf Geflügel auszudehnen. 1907 setzte das Bundesgericht mit einem Grundsatzentscheid solchen kantonalen Ausweitungsversuchen ein Ende.

Um sich gegen die Einschränkungen der Kultus- und Religionsfreiheit zur Wehr zu setzen, hatten die Israelitischen Gemeinden der Schweiz 1904 den Dachverband der Gemeinden, den „Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund“ (SIG), gegründet. Er übernahm im Laufe der Jahre zunehmend weitere Aufgaben. Während des Ersten Weltkriegs erteilte der Bundesrat aufgrund der schwierigen Versorgungslage eine vorübergehende Schächtbewilligung, die bis in die Nachkriegsjahre andauerte. Verschiedene Organisationen bekämpften auch diese vorübergehende Bewilligung, was wiederholt zu antisemitischen Ausschreitungen führte.

Eine Aufhebung des Schächtverbots konnte bis heute nicht erreicht werden. Im März 2002 erfolgte der jüngste solche Versuch. Damals verzichtete das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement einvernehmlich mit dem SIG und im „Interesse des konfessionellen Friedens“ auf eine Änderung im Tierschutzgesetz.

Migration der Ostjuden

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kam es neben der Zuwanderung von Juden aus den grenznahen Gebieten Elsass, Südbaden, Vorarlberg sowie aus Deutschland auch zu einer verstärkten Einwanderung jüdischer Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa, so genannter Ostjuden. Wirtschaftliches Elend und wiederkehrende Pogrome zwangen zwischen 1880 und 1930 ungefähr 3 Millionen Juden Osteuropas zur Flucht. Der Grossteil derjenigen, die flohen oder auswanderten, suchte in den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Heimat, ein geringerer Teil siedelte nach Argentinien über und einige wenige wanderten nach Palästina aus. Zehntausende blieben in Westeuropa, wovon sich rund 5’000 in der Schweiz niederliessen. Die Migranten aus Osteuropa, die zum Teil über eigene religiöse Traditionen verfügten, gelangten zu einem Zeitpunkt in die Schweiz, als sich die ortsansässigen Juden ökonomisch etabliert hatten und über eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung verfügten. Dieses Aufeinandertreffen musste zu Spannungen führen, denn die Westjuden sahen in der Ankunft der in der Regel sozial deutlich schlechter gestellten Glaubensbrüder und -schwestern aus dem Osten die eigene fragile Stellung gefährdet. Die ostjüdische Bevölkerung lebte während längerer Zeit in einer Art „doppelter Emigration“. Dennoch engagierten sich die jüdischen Gemeinden stark in der Sozial- und Fluchthilfe. Neben den ostjüdischen Immigranten, die in der Schweiz eine oft nur vorübergehende Heimat fanden, hielten sich um die vorletzte Jahrhundertwende pro Jahr mehrere tausend Flüchtlinge sowie so genannte Passanten aus Osteuropa auf. Diese beiden Gruppen von Personen verweilten in der Regel nur Tage oder wenige Wochen in der Schweiz. Hinzu kam vor dem Ersten Weltkrieg eine beachtliche Zahl ostjüdischer Studierender. Russisch-jüdische Studentinnen kamen aufgrund der restriktiven Bestimmungen in ihrer Heimat und der liberalen Zulassungsbestimmungen an den meisten schweizerischen Universitäten vor dem Ersten Weltkrieg zahlreich in die Schweiz. Für das Frauenstudium der Schweiz besassen die Jüdinnen aus Osteuropa gar eine Pionierinnenrolle.

Behördlicher Antisemitismus

Der Erste Weltkrieg führte zu einem Erstarken des Antisemitismus in der Schweiz, dem vor allem Ostjuden ausgesetzt waren. So genannte Lebensmittelwucherprozesse richteten sich einseitig gegen ostjüdische Händler. In der schweizerischen Presse verschärfte sich der Ton gegen ostjüdische Migranten, die für alle möglichen sozialen Missstände verantwortlich gemacht wurden. Auch der behördliche Antisemitismus, der in Einbürgerungspraktiken und -bestimmungen zum Tragen kam, richtete sich einseitig gegen osteuropäische Juden. In den Jahren 1912 und 1920 erschwerte beispielsweise der Zürcher Stadt␣rat die Einbürgerung ostjüdischer Bewerberinnen und Bewerber, indem er von ihnen eine län␣gere Domizilfrist verlangte als von anderen, nicht ostjüdischen Bewerbern und Bewerberinnen. Diese Praxis wurde im Kanton Zürich 1936 wieder abgeschafft, doch bereits 1926 hatte das Eidgenössische Naturalisationsbüro im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement diese diskriminierende Praxis stillschweigend übernommen.

Autor

Patrick Kury, 2009

Literatur

Kamis-Müller, Aron: Antisemitismus in der Schweiz, 1900–1930, Zürich 1990.

Kury, Patrick: Über Fremde reden, Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900–1945, Zürich 2003.

Kury, Patrick: „Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!“ Ostjuden in Basel 1890–1930, Basel 1998.

Rechtlicher Hinweis: Dieses Factsheet darf gesamthaft oder auszugsweise mit dem Hinweis «SIG Factsheet» zitiert werden

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