Die Anerkennung des Prinzips der religiösen Freiheit und Neutralität des Staates auf eidgenössischer Ebene geht in der Schweiz auf das Jahr 1874 zurück und ist durch die seither vorgenommenen verfassungsrechtlichen Änderungen bestätigt und sogar verstärkt worden.

Daher haben die Juden in der Schweiz bis zu den kürzlich entstandenen Diskussionen, die gewisse Errungenschaften der Religionsfreiheit in Frage stellen, in einem sehr grossen Umfang ihren Glauben in Freiheit ausüben können, ohne dass ihre Integration dadurch gelitten hätte oder es zu Einschränkungen des Friedens unter den Konfessionen geführt hätte.

Die Bundesverfassung von 1999 (BV), in Kraft seit dem 1. Januar 2000, garantiert in Artikel 15 die Gewissens- und Glaubensfreiheit wie folgt:

  1. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet.
  2. Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen.
  3. Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen.
  4. Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.

Die Formulierung von Artikel 15 BV berücksichtigt sowohl die früheren Bestimmungen und Rechtsprechung, als auch die internationalen Abkommen, denen die Schweiz beigetreten ist, wie die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 9) und das Abkommen der Vereinten Nationen bezüglich der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte (Artikel 18). Auch wenn die Grundrechte aus der Bundesverfassung im gesamten Staatsgebiet der Schweiz anzuwenden sind, sind diese Prinzipien von einer grossen Zahl kantonaler Verfassungen aufgenommen und so ausdrücklich in ihre kantonale Rechtsprechung integriert worden.

Die Bundesverfassung garantiert infolgedessen nicht nur die Freiheit zu glauben, was man will, der Religion seiner Wahl beizutreten und diese freiwillig wieder zu verlassen. Sie erlaubt auch, seine Überzeugungen allein oder in Gemeinschaft zu bekennen und so die religiösen Riten zu praktizieren.

Wie alle anderen Freiheiten kann auch die Gewissens- und Glaubensfreiheit unter den in Artikel 36 BV genannten Bedingungen eingeschränkt werden. Dieser Artikel besagt ausdrücklich, dass jede Einschränkung von Grundrechten

  • eine gesetzliche Grundlage haben muss;
  • durch Öffentliches Interesse oder den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtigt sein muss;
  • verhältnismässig sein muss; und
  • das Wesen der Grundrechte, die unantastbar sind und bleiben müssen,

bewahrt.

Das Recht jeder Person und Gemeinschaft, ihre Religion zu bekennen zieht die Verpflichtung der Staatsorgane nach sich, Neutralität in Religionsfragen zu wahren und die Ausübung der religiösen Überzeugungen nicht ohne wesentliche Rechtfertigung zu behindern. So wie das BG in einem Entscheid zusammenfasst: « ... Schliesslich besteht der Laizismus des Staates in einer Neutralitätspflicht, die ihm auferlegt, sich bei den öffentlichen Handlungen jeder konfessionellen oder religiösen Erwägung zu enthalten, welche die Freiheit der Rechtsunterworfenen in einer pluralistischen Gesellschaft gefährden könnte. In diesem Sinn bezweckt sie die Religionsfreiheit des Einzelnen zu schützen, aber auch den konfessionellen Frieden im Geiste der Toleranz aufrecht zu erhalten. » (BGE 123 I 296 – Praxis 4/1998 S. 307/8).

Die Religionsfreiheit umfasst nicht nur das Recht des Einzelnen zum Bekenntnis seiner Religion und die Verpflichtung des Staates zur Neutralität. Artikel 8 BV untersagt auch jede Diskriminierung wegen der Herkunft oder der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen.

Diese Vorschrift verbietet nicht nur jede direkte Diskriminierung, die aufgrund der Religion zu einer anderen Behandlung führt, die nicht durch die Umstände gerechtfertigt wird, sondern auch indirekte Diskriminierungen. Für das Bundesgericht bedeutet indirekte Diskriminierung, wenn eine Regelung, die keine offensichtlichen Nachteile für eine besonders gegen Diskriminierung geschützte Gruppe enthält, durch ihre praktische Anwendung zu besonders schwerwiegenden Nachteilen für die Mitglieder dieser Gruppe führt, ohne durch den Tatbestand gerechtfertigt zu sein (BGE 126 II 377).

Das verfassungskonforme Prinzip der Gleichheit der Behandlung und der Nicht-Diskriminierung, besonders auf dem Gebiet der Religion, schützt also die religiösen Minderheiten, wobei gewisse Praktiken eine differenzierte Behandlung erfordern.

Es zeichnet sich jedoch eine Tendenz ab, gewisse religiöse Zeichen im öffentlichen Raum, die als extrem oder für das Zusammenleben und die Neutralität des Staates als gefährlich empfunden werden, zunehmend einzuschränken. Dazu gehören die nach Volksabstimmungen in die Bundesverfassung aufgenommenen Verbote von Minaretten (2009) und Gesichtsverhüllungen (2021).
Auf kantonaler Ebene ist es der Kanton Genf, der religiöse Zeichen bzw. Religionsausübung auf öffentlichem Raum am meisten einschränkt. Das vom Genfer Volk 2019 angenommene Laïzitätsgesetz bekräftigt die Neutralität des Staates und die Nichtdiskriminierung in religiösen Bereichen und verbietet den politischen Mandatsträgern und Staatsangestellten, die Kontakt zur Öffentlichkeit haben, das Tragen von religiösen Merkmalen, wozu auch das Kopftuch gehört.

Autorin

Sabine Simkhovitch-Dreyfus, 2010/2023

Literatur

Müller Jörg Paul/Schefer Markus, Grundrechte in der Schweiz, im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Auflage, Bern 2008.

Rechtlicher Hinweis: Dieses Factsheet darf gesamthaft oder auszugsweise mit dem Hinweis «SIG Factsheet» zitiert werden

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