Ursprünge

Die Ursprünge des jüdischen Gemeinwesens in Kreuzlingen gehen ins späte 19. Jahrhundert zurück. Damals eröffneten Besitzer verschiedener Fabrikations- und Handelsbetriebe aus Konstanz und Umgebung Filialen in der Schweiz und einige liessen sich mit ihren Familien auf der Schweizer Seite der Grenze nieder. Während und nach dem Ersten Weltkrieg zogen auch Juden aus dem Aargau nach Kreuzlingen. Sie alle waren Mitglieder der 1866 gegründeten israelitischen Gemeinde im unmittelbar benachbarten Konstanz und nahmen aktiv an deren Gemeinde- und Vereinsleben Teil.

Ohne Konstanz

Seit 1933 bemühten sich jüdische Familien aus Konstanz vermehrt um Niederlassung in Kreuzlingen. Diese wurde nur wenigen nach streng ökonomischen Gesichtspunkten gewährt. Die Kreuzlinger Juden gingen seit dem Boykottag jüdischer Geschäfte in Konstanz am 1. April 1933 nicht mehr gerne über die Grenze.

Ab 1934 wurden in Kreuzlinger Privathäusern Bar Mizwa- und Jahrzeitfeiern gehalten. 1936 wurde in Kreuzlingen eine eigene Jüdische Friedhofsgemeinschaft gegründet - der erste Schritt hin zur Gemeinde. Für die hohen Feiertage kam 1938 erstmals Rabbiner Rothschild aus Basel nach Kreuzlingen. Als im November 1938 die Konstanzer Synagoge zerstört wurde, brach die Verbindung zwischen den Gemeinden ganz ab. Der Basler Rabbiner kam wöchentlich nach Kreuzlingen, ein Lehrer aus Winterthur übernahm den jüdischen Religionsunterricht.

Gemeindegründung

Im Sommer 1939 folgte die formelle Gemeindegründung. Als am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes der erste Gottesdienst im neuen Betsaal an der Hafenstrasse 42 stattfand, war bereits der Krieg ausgebrochen. Einer der ersten Vorstandsbeschlüsse widmete alle vorhandenen Gelder der Hilfe an Konstanzer Juden. Thoraschmuck wurde erst nach dem Krieg angeschafft.

Hilfsaktion

Im Oktober 1940 wurden, von der Öffentlichkeit in Konstanz wie in Kreuzlingen wenig beachtet, die Konstanzer Juden zusammen mit 6’500 anderen badischen, saarländischen und pfälzischen Juden ins südfranzösische Gurs deportiert. Die Kreuzlinger Juden waren entsetzt: Sie richteten für ihre Freunde und Verwandten ein Hilfsbüro ein, schickten über verschiedene Organisationen Lebensmittel, Kleider und Geld. Die Internierten waren auf Hilfe angewiesen, um in den primitiven 'Ilots' überleben zu können. In Kreuzlingen besorgte Erna Veit fast die ganze Arbeit. Sie kam aus Konstanz und lebte seit 1937 in Kreuzlingen. Ihre Mutter und Schwester waren nach Gurs verschleppt worden. Die Pakete brachten den Deportierten neben nützlichen Dingen vor allem auch Trost und Hoffnung. Es sind fünf Aktenordner voll Dankesbriefe an die besonders aktive Gemeinde Kreuzlingen erhalten, die bei 100 Seelen nur 37 zahlende Mitglieder hatte. Sie befinden sich heute in Yad Vashem.

Behördlicher Antisemitismus

Mindestens zehn jüdische Kinder aus Konstanz besuchten zwischen 1934 und 1938 Kreuzlinger Schulen, um den Repressionen des Hitlerregimes, die sich von der „Judenbank“ in der Schule zum Ausschluss vom Unterricht steigerten, zu entgehen. Sie wurden im Oktober 1938 von der Thurgauer Fremdenpolizei abgeschoben. Die Begründung des Bezirksstatthalters gegenüber der Schulgemeinde, die die Kinder behalten wollte, war, sie importierten fremde, unschweizerische Weltanschauungen und seien „wesensfremd“. Ihre Ausweisung sei ein Akt der geistigen Landesverteidigung. Lebten 1939 rund 120 Juden in Kreuzlingen, waren es 1941 nur noch 97, weil die politische Unsicherheit einige Mitglieder und sogar den Präsidenten Schwab zur Auswanderung veranlasste. Die meisten Kreuzlinger Juden waren deutsche Staatsangehörige. 1941 wurden sie ausgebürgert und somit staatenlos. Die Thurgauer Fremdenpolizei entzog ihnen daraufhin die Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung, setzte sie auf „Toleranz“ und verlangte den Höchstsatz von 5’000 Franken Kaution pro Person. Um ihr Selbstbewusstsein zu stärken organisierten die Kreuzlinger Juden kulturelle Veranstaltungen mit Konzerten und Lesungen jüdischer Dichter und gründeten eine zionistische Ortsgruppe.

1945 bis heute

Nach Kriegsende rollten Elendstransporte mit Juden aus den Lagern Bergen- Belsen und Theresienstadt über die Grenze. Abgeschirmt durch Militär und Rotes Kreuz mussten sie vor der Weiterreise verpflegt werden. Am Grenzzaun tauchten ehemalige Lagerhäftlinge in gestreifter Kleidung auf. Im Jahresbericht der IGK von 1946 ist geschildert, wie die jüdischen „Displaced Persons“, die in Konstanz untergebracht waren, von den Kreuzlingern mitbetreut wurden.

Die IGK blieb nach dem Krieg die Nachfolgegemeinde der Konstanzer Gemeinde, denn nach Konstanz kehrte niemand zurück. Sie pflegte die reformierte Tempeltradition und die vertrauten Melodien. Ein Versuch, sich mit Diessenhofen (Gailingen) zusammenzutun, scheiterte an den unterschiedlichen religiös-kulturellen Traditionen: hier liberale Tempeltradition, dort eher konservativ orientiertes Landjudentum. Die jüdische Gemeinde überalterte seit den 1970er Jahren. Die Abwanderung in grössere Städte mit besserer jüdischer Infrastruktur ist typisch für Schweizer Verhältnisse. Heute sind die wenigen jüdischen Familien in Kreuzlingen nach Zürich orientiert.

Autorin

Monica Rüthers, 2009

Literatur

Robert Wieler: 50 Jahre Jüdische Gemeinde, 50 Jahre Jüdischer Frauenverein Kreuzlingen, 1939-1989: Chronik verfasst von Robert Wieler; Hg.: Vorstand der IGK. Kreuzlingen 1989

Michael Bürgi, Monica Rüthers, Astrid Wüthrich (Hg.): Kreuzlingen. Kinder, Konsum und Karrieren, 1874- 2000. Mit Beiträgen von Eva Büchi, Michael Bürgi, Diane Fischer, Patrick Kupper, Martin Leschhorn, Barbara Rettenmund, Monica Rüthers, Sabine Strebel, Werner Trapp, Reto Wissmann, Astrid Wüthrich und Thomas Zürcher; Wolfau-Druck, Weinfelden 2001.

Rechtlicher Hinweis: Dieses Factsheet darf gesamthaft oder auszugsweise mit dem Hinweis «SIG Factsheet» zitiert werden

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