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«Die Bedrohungslage für die jüdischen Gemeinden bleibt akut»

Was passiert, wenn antisemitisches Gedankengut zur Tat schreitet? Der Antisemitismusbericht gibt auf diese Frage Antwort und zeigt Beispiele von aktuellen antisemitischen Vorfällen. Im Jahr 2016 fiel die rechtsextreme Szene stärker auf als in den Vorjahren. Der Historiker Daniel Rickenbacher hat den diesjährigen Schwerpunktbeitrag zum Bericht geschrieben. Darin geht es um sogenannte Querfronten. Rickenbacher arbeitet als Forschungsassistent an der Militärakademie der ETH Zürich. Wir haben mit ihm über aktuelle antisemitische Tendenzen gesprochen.

SIG: Von welchen Personen geht heute die antisemitische Bedrohung aus?

Daniel Rickenbacher: Die antisemitische Bedrohung geht weiterhin von den politischen Extremen aus, in denen ein Hang zu Verschwörungsdenken, anti-demokratischer Geisteshaltung und Schwarz-Weiss-Denken prägend ist, d.h. konkret Islamisten, Linksextremisten und Rechtsextremisten. Der gewalttätige Antisemitismus geht mehrheitlich von Leuten mit islamistischer Gesinnung aus.

Sie sprechen in ihrem Schwerpunktbeitrag im Antisemitismusbericht von SIG und GRA (Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus) von Querfronten. Können Sie kurz erklären, was das ist?

Querfronten sind im Wesentlichen Allianzen zwischen extremistischen Gruppierungen der Linken und der Rechten, die sich auf der Basis gemeinsamer Interessen und Weltanschauungen bilden. Dazu zähle ich auch die Zusammenarbeit mit islamistischen Gruppierungen, die am ehesten dem Rechtsextremismus zuzuordnen sind. Antisemitismus und Israelfeindschaft bilden immer wieder eine Basis für solche «kruden Allianzen». So ist es keine Seltenheit, auf Aufrufen zu anti-israelischen Demonstrationen die Namen von islamistischen Organisationen wie dem Schweizer Ableger der Moslembruderschaft neben jenen von linken Organisationen zu lesen. Rechtsextreme Organisationen und Personen in der Schweiz haben umgekehrt immer wieder die Zusammenarbeit mit dem iranischen Regime gesucht.

Der SIG setzt sich seit Jahren stark dafür ein, dass der Staat die jüdische Gemeinschaft bei ihren Schutzmassnahmen unterstützt. Wie würden Sie die Bedrohungslage angesichts Ihrer Beobachtungen einschätzen?

Die Bedrohungslage für die jüdischen Gemeinden bleibt akut. Eine grosse Gefahr geht insbesondere von Rückkehrern und Sympathisanten des Islamischen Staates aus. In der jüngsten Vergangenheit haben diese Personengruppen immer wieder Terroranschläge gegen europäische Juden begangen, auch tödliche.

Welches sind die wichtigsten Tendenzen in der neusten Forschung über Antisemitismus?

Seit den frühen 2000ern steht vor allem der sogenannte Neue Antisemitismus im Fokus. Dieser Neue Antisemitismus geht nicht mehr primär von Rechtsextremisten aus, sondern eben auch von Islamisten und Teilen der politischen Linken. In der Öffentlichkeit stellt er sich primär als Kritik an Israel dar, wobei er oft mit den klassischen Themen des Antisemitismus operiert, wie den Verschwörungstheorien der Protokolle der Weisen von Zion oder der Ritualmordlegende.

Wie kann die jüdische Gemeinschaft, insbesondere der SIG, dagegen vorgehen?

Zuerst ist festzuhalten, dass Antisemitismusbekämpfung nicht primär Aufgabe der jüdischen Gemeinde ist, sondern vor allem des Staates. Einerseits, weil die Juden Anrecht auf Sicherheit haben, anderseits weil von antisemitischen Bewegungen eine allgemeine Bedrohung ausgeht. Leider ist dies keine Selbstverständlichkeit und Antisemitismus wird immer noch oft als Problem der Juden wahrgenommen. Die jüdische Gemeinde muss auf ihr Recht bestehen. Gleichzeitig sollten die jüdischen Gemeinden selbst wachsam gegenüber antisemitischer Bedrohung bleiben. Wichtig ist auch, dass man Antisemitismus überall ehrlich anspricht und die Bekämpfung des Antisemitismus als parteiübergreifendes Anliegen versteht und betreibt.

Was braucht es Ihrer Meinung nach für die Antisemitismus-Bekämpfung?

Mit der Annahme des Nachrichtendienstgesetzes wurde ein wichtiger Schritt gemacht, um die jüdische Gemeinde vor der Gefahr des Terrorismus zu schützen. Die Rolle, die der Antisemitismus in der Radikalisierung dschihadistischer Terroristen spielt, wird leider immer noch oft unterschätzt. Antisemtische Propaganda auf sozialen Medien wie Facebook bleibt ebenfalls ein Problem. Die SIG-Strategie, antisemitische Aussagen zur Anzeige zu bringen, hat sich nach meiner Sicht bewährt. Sie hat eine abschreckende Wirkung und erlaubt es, die Verbreitung und die Akteure des Antisemitismus besser einzuschätzen. Schliesslich ist es ein Problem, dass in der Schweiz nur wenig Forschung zum aktuellen Antisemitismus besteht. Viele antisemitische und extremistische Gruppierungen, die einen negativen Einfluss gerade auf Jugendliche und Migranten ausüben, sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Ich erinnere etwa an die türkische Milli Görüs oder die rechtsextremistischen Grauen Wölfe, die in der Schweiz seit langem aktiv sind. Auch antisemitische Musik, z.B. im Rap, sehe ich als zunehmendes Problem. Hier braucht es eine Zusammenarbeit mit der Musikindustrie, um die Verbreitung solcher Inhalte zu unterbinden. Das Bewusstsein hierfür scheint jedoch noch sehr gering.

Zum Antisemitismus-Bericht

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