Wednesday, 28. May 2014, Biel

Kwod Ha Rabbanim

Verehrte Delegierte, Ehrengäste und Gäste

Liebe Freunde

Bevor ich Sie nun alle begrüsse und zu meinem Tour d’horizon komme, ist es mir ein inneres Bedürfnis, dass wir alle den unschuldigen Opfern des mörderischen Anschlags vor wenigen Tagen in Brüssel gedenken. Auch wenn die näheren Umstände noch nicht bekannt sind, liegt es auf der Hand, dass es sich hier um eine antisemitische Tat handelt. Diese Tat erfüllt mich mit Trauer, ja auch mit Wut. Ich bitte Sie, sich alle für eine Gedenkminute zu erheben, um damit von hier aus den Familien der Opfer unsere Anteilnahme auszudrücken.

Danke!

Nach diesen schmerzhaften und traurigen Worten begrüsse ich Sie auch meinerseits ganz herzlich zum Abendprogramm der 109. Delegierten-versammlung des SIG.

Besonders danken möchte ich Herrn Stadtpräsident Erich Fehr für seine inspirierende Grussbotschaft. Ich freue mich, dass Sie die Zeit gefunden haben, den Abend mit uns zu verbringen. Ich bedauere natürlich, dass Herr Regierungspräsident Christoph Neuhaus heute nicht unter uns weilt, aber als Jurist muss ich natürlich höhere Gewalt akzeptieren.

Ein ebensolcher Dank geht an Daniel Frank, Präsident der Jüdischen Gemeinde Biel, der dieses Jahr die Gastgeberrolle mit uns teilt, und an Rabbiner David Polnauer für sein Eingangsgeleit.

Bevor ich mit meinem Tour d’horizon beginne, ist es mir ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass heute nach jüdischem Kalender Yom Jerushalaim, also der Jerusalem-Tag, ist. Seit jenem Tage im Jahre 1967 können die Gläubigen aller Religionen, für die Jerusalem wichtig ist, nach ihrer Tradition an allen Gebetsstätten dieser Stadt beten. Ich wünsche mir, dass dies immer so bleibt. Leider zeigen viele Beispiele in verschiedenen Ländern, dass dies nicht so selbstverständlich ist.

Lassen Sie mich nun zuerst einen Blick zurück werfen: An unserer letzten Delegiertenversammlung präsentierten wir Ihnen nämlich ein Novum. Wir hatten beschlossen, das Abendprogramm wie auch verschiedene Aktivitäten des SIG im Jahresverlauf unter ein übergreifendes Motto zu stellen und die Frage aufzuwerfen, welcher Stellenwert religiösen Werten wie Respekt und Nächstenliebe in dieser säkularen Welt noch zukommt. Dies in einer Zeit, in der Religiöses seine Deutungshoheit mehr und mehr verliert und das Verständnis für Religionsfreiheit, insbesondere für die Sitten und Gebräuche von Minderheitsreligionen, vermehrt in Frage gestellt wird. Wir haben in allen Landesteilen dazu Veranstaltungen selbst organisiert oder angeregt, in den Medien inklusive den Social Media Diskussionsbeiträge lanciert und mit Angehörigen verschiedener Religionsgruppen, aber auch innerhalb unserer Gemeinschaft, darüber debattiert.

Ich habe diese Diskussionen als lebhaft, als ernsthaft und als persönlich sehr bereichernd empfunden. Ich bin überzeugt, dass wir einen Beitrag zur Sensibilisierung in dieser hoch-aktuellen Frage leisten konnten. Natürlich wird uns das Thema auch in Zukunft weiter begleiten.

Am heutigen Abend möchten wir, Sie haben dies dem Programm bereits entnommen, den Fokus verstärkt auf das Thema Antisemitismus legen.

Wenn sich nicht gerade vor wenigen Tagen die schreckliche Mordtat im jüdischen Museum Brüssel abgespielt hätte, würde sich vielleicht manch einer fragen, warum wir uns nicht ein so genannt positiveres Thema aus-gedacht haben, zumal Antisemitismus in der Schweiz ja kein besonderes Problem zu sein scheint. Aber ist Antisemitismus wirklich kein Thema? Ich komme auf diese Frage später nochmals zurück.

Auslöser für unsere Themenwahl war eine wie ich finde bemerkenswerte Studie über die Befindlichkeit und die Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung mit antisemitischer Belästigung, Diskriminierung und Hasskriminalität innerhalb der EU. Der von der EUAgentur für Grundrechte FRA erstellte Bericht wurde im letzten November anlässlich des 75. Jahrestages der Pogromnacht in Deutschland vorgestellt. Er basiert auf einer repräsentativen Befragung von fast 6‘000 Jüdinnen und Juden in acht EU-Ländern, in denen schätzungsweise rund 90% der jüdischen Bevölkerung der Europäischen Union leben.

Hier eine kurze Auswahl der wichtigsten Ergebnisse:

• 66% der Befragten halten Antisemitismus für ein grosses Problem in ihrem Land, und 76% gaben an, die Situation habe sich in den letzten fünf Jahren deutlich verschlechtert.

• 21% der Befragten haben in den zwölf Monaten vor der Erhebung antisemitische Vorfälle wie Beschimpfungen, Belästigungen oder körperliche Angriffe erlebt.

• Antisemitismus steht für die Befragten an vierter Stelle der bedrückendsten sozialen oder politischen Probleme, mit denen sie konfrontiert sind.

Die Befragungsergebnisse zeigen zudem grosse Unterschiede zwischen den Ländern auf. In Grossbritannien beispielsweise gaben 9% der Befragten an, sie hätten häufig die Behauptung gehört, Juden seien für die aktuelle Wirtschaftskrise verantwortlich. In Ungarn äusserten dies hingegen 59%. In Lettland erklärten 8% der Befragten, der israelisch-arabische Konflikt habe einen grossen Einfluss darauf, wie sicher sie sich fühlten. In Deutschland äusserten dies jedoch 28% und in Frankreich sogar 73% der Befragten.

Besonders erschreckend ist die Tatsache, dass gerade in Ungarn und in Frankreich, aber auch etwa in Griechenland Handgreiflichkeiten gegen Juden fast schon an der Tagesordnung sind. Das fängt bei Vorfällen an, bei denen jüdischen Buben die Kippa vom Kopf gerissen wird, und geht bis zu schwerer, physischer Gewalt, ja auch Mord, wie in Brüssel und vor zwei Jahren in Toulouse. Direkt oder indirekt angetrieben werden diese Taten oft durch extremistische Gruppierungen oder sogar politische Parteien, die dafür den ideologischen Nährboden bieten. Diese Situation macht zutiefst betroffen – zumal in einer Region wie der EU, und in einer Zeit, in der sich Toleranz gegenüber Menschen wie auch immer gearteter Unterschiede nicht nur in den Gesetzen, sondern vermeintlich auch in den Köpfen weitestgehend durchgesetzt haben sollte.

Leider aber hatte Elie Wiesel recht, als er sagte: „Ich war überzeugt, dass der Antisemitismus in Auschwitz gestorben ist. Jetzt wissen wir aber, es sind die Opfer, die tot sind. Der Antisemitismus aber lebt!“

Wie, so müssen wir uns fragen, stellt sich die Situation in der Schweiz dar?

Die vom SIG zusammen mit der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA für die Deutschschweiz und von der CICAD für die welsche Schweiz regelmässig erstellten Antisemitismus-Berichte zeigen, dass in der Schweiz die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle seit Jahren relativ tief ist. Dabei ist zu präzisieren, dass die Vorfälle beim Auftreten gewisser Situationen, zum Beispiel bei kriegerischen Handlungen im Nahen Osten, sofort zunehmen, danach aber wieder abflauen. Körperlicher Angriffe sind glücklicherweise sehr selten. Das ist selbstverständlich ein insgesamt erfreulicher Befund, und er korreliert ja auch weitestgehend mit den feststellbaren Fakten: Uns Jüdinnen und Juden in der Schweiz geht es insgesamt gut. Wir sind in der Gesellschaft, in der Wirtschaft, in der Politik und in der Kultur fest etabliert.

Ist die Schweiz also eine Insel der Glückseligen? Können wir uns entspannt zurücklehnen, oder gehen die beunruhigenden antisemitischen Tendenzen in vielen Ländern Europas auch die Schweiz etwas an?

Das Problem liegt darin, dass sich Antisemitismus nicht wie die Temperatur exakt in Zahlen messen lässt. Zum einen wird ja bekanntermassen nur ein Teil aller antisemitischen Vorfälle gemeldet. Die tiefe Anzahl solcher Ereignisse sagt somit nur beschränkt etwas über die Verbreitung antisemitischer Einstellungen aus. Das zahlreiche antisemitische Gedankengut auf Internet zum Beispiel geht gerade an Jugendlichen nicht spurlos vorbei, und wir befürchten, dass dieses Phänomen in der Zukunft noch zunimmt. Was wirklich in den Köpfen der Menschen vorgeht, lässt sich aus der quantitativen Beobachtung nicht ableiten. Aus Umfragen wissen wir aber, dass auch in der Schweiz bei etwa einem Viertel der Bevölkerung judenfeindliche Einstellungen bestehen. Sie scheinen hier sogar noch stärker verbreitet zu sein als im westeuropäischen Durchschnitt.

Zum andern mag es individuell unterschiedlich sein, was Jüdinnen und Juden als antisemitische Belästigung oder Stigmatisierung empfinden. Viele von uns verstehen es beispielsweise als latente Ablehnung, sich ständig etwa in Fragen Israels, der Knabenbeschneidung oder des Schächtens rechtfertigen zu müssen. Auch die Konfrontation mit Stereotypen wie jenem des “reichen“ Juden hat einen Einfluss darauf, wie wohl wir uns in unserem Umfeld fühlen. Die eigene Befindlichkeit ergibt sich somit aus einer Vielzahl auch emotionaler Faktoren und ist nicht nur eine Frage der äusseren Umstände, beispielsweise des wirtschaftlichen Wohlstands. Auch scheint die Eisschicht dünn zu sein. Es braucht nicht viel – wie gerade erwähnt, etwa eine Eskalation im Nahostkonflikt – und schon nimmt die Zahl kritischer oder ablehnender Bemerkungen gegen die Juden zu. Dann sind wir wieder „die anderen“, eben keine „richtigen Schweizer“.

Auch die FRA-Studie kommt zum Schluss, dass der Nahostkonflikt einer der übergeordneten Auslöser für judenfeindliche Tendenzen in Europa ist. Weitere Treiber sind gemäss der Studie die Wirtschaftskrise einerseits sowie der muslimisch geprägte Antisemitismus anderseits; ferner ein Antisemitismus, der sich als Entlastung von der judenfeindlichen europäischen Vergangenheit interpretieren lässt und zu einer gewissen Verharmlosung des Holocaust geführt hat. All diese Tendenzen gibt es auch in der Schweiz, wenn auch weniger ausgeprägt.

Für uns beim SIG ist es daher eine ganz zentrale Aufgabe, jegliche Formen von Antisemitismus zu bekämpfen. Wir schauen hin, wir benennen Probleme, und wir thematisieren sie in unseren Gesprächen mit den Medien, mit der Politik, aber auch mit den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften.

Das wichtigste ist Aufklärung und Prävention, um Schranken und Vorurteile frühzeitig abzubauen. Deshalb fangen wir mit Jugendlichen an, zum Beispiel seit mehr als zehn Jahren mit unserem erfolgreichen und beliebten Likrat-Dialogprojekt. Dabei besuchen vom SIG ausgebildete jüdische Jugendliche Schweizer Schulklassen, um mit nichtjüdischen Kollegen relevante Themen kritisch zu diskutieren. Bisher konnten so rund 8‘000 Jugendliche erreicht werden. Ferner haben wir ein pädagogisches Lehrmittel herausgegeben und organisieren - so wie es die CICAD in der welschen Schweiz tut – seit einigen Jahren in der deutschen Schweiz Weiterbildungsreisen für Lehrerinnen und Lehrer nach Auschwitz, weil eine persönliche Erfahrung vor Ort zusammen mit einer pädagogischen Nachbearbeitung für Lehrer und Schüler viel nachhaltiger ist als das, was in den Büchern steht. Ferner bieten wir Organisationen und Institutionen Referatsmodule zu einschlägigen Themen an. In der welschen Schweiz unterstützen wir zudem die CICAD, welche mit ihrer Teilnahme am Genfer Büchersalon der Präventionsarbeit eine beeindruckende neue Dimension gegeben hat. Vom Staat erwarten wir, dass er der Sensibilisierungsarbeit im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus einen höheren Stellenwert als bisher beimisst und dass auch der Bundesrat hier Klartext spricht. Auf Bundesebene wird, von der Integrationsarbeit abgesehen, leider sehr wenig gemacht.

Unser Engagement gegen Antisemitismus schliesst selbstverständlich den Kampf gegen jede Form von Rassismus mit ein. Wir müssen leider feststellen, dass von gewissen Kreisen immer wieder die Abschaffung der Strafnorm gegen Rassendiskriminierung gefordert wird. Gegen diese Forderung werden wir uns weiterhin zusammen mit Gleichgesinnten vehement zur Wehr setzen. Wir wollen nicht, dass die Schweiz ein Staat wird, wo Menschen öffentlich den Holocaust leugnen, Leute aus dem Balkan als Gangster beschimpfen oder Muslime pauschal als Terroristen verunglimpfen dürfen. Unserer Meinung nach sollte auch der Hitler-Gruss in der Öffentlichkeit verboten sein. Wir haben deshalb für die enge Auslegung der Rassismusstrafnorm durch das Bundesgericht in einem kürzlich ergangenen Urteil wenig Verständnis. Die Entgegnung, man solle offen sagen und offenbar auch zeigen dürfen, was man denkt, überzeugt da keineswegs. Schliesslich ist es auch nicht erlaubt, Menschen in ihrer Persönlichkeit zu verletzen oder ihren Ruf zu schädigen. Die Errungenschaft der Rassismus-Strafnorm war deshalb aus unserer Sicht wichtig, und sie bleibt wichtig. Gar nichts halten wir auch vom inzwischen vom Parlament abgelehnten Vorschlag, die Leugnung von Völkermord, mit Ausnahme des Holocausts, aus der Strafnorm zu entfernen. Auf diese zweifelhafte Sonderbehandlung, die letztlich wiederum einer Ausgrenzung gleichkommt, möchten wir lieber verzichten.

Dies haben wir vor ein paar Monaten in einem Schreiben auch der zuständigen Bundesrätin mitgeteilt und sind dabei auf aktives Interesse gestossen. Überhaupt entwickeln sich unsere Diskussionen mit politischen Behörden und Parteien, die wir ja traditionell mit der Plattform der Liberalen Juden in der Schweiz durchführen, sehr positiv. Wir sind beileibe nicht immer einer Meinung mit unseren Gesprächspartnern, aber darin kann auch das realistische Ziel nicht liegen, sondern dieses liegt im konstruktiven, für alle Seiten fruchtbaren Dialog. Das gilt auch für unsere interreligiösen Gespräche und – last but not least – für die Debatten innerhalb unserer Gemeinschaft und im SIG.

Damit, liebe Freundinnen und Freunde, komme ich zum Schluss. Lassen Sie mich zunächst den Organisatoren und den vielen Helfern des heutigen Anlasses herzlich danken.

Sodann möchte ich mit denselben Worten schliessen, mit denen ich auch in den letzten Jahren meine Rede am Delegiertenabend jeweils beendet habe: „Mazel und Broche“ heisst auf Jiddisch „Glück und Segen“, und es ist der Spruch, den wir Juden auf der ganzen Welt verwenden, um uns gegenseitig alles Gute für die Zukunft zu wünschen. Nun lassen Sie mich „Mazel und Broche“ Ihnen allen zurufen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren Aktivitäten, und weitere konstruktive Kontakte unter uns allen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

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