Wednesday, 1. December 2010,

Sehr geehrte Damen und Herren,

Lieber Zsolt Keller, Du hast für Deine Dissertation das Thema Antisemitismusabwehr und - aufklärung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes gewählt. Ich möchte Dir einerseits gratulieren, dass Du dich an dieses komplexe Thema herangewagt hast – und Dir andererseits auch herzlich dafür danken.

Du schliesst damit nicht nur eine wichtige Forschungslücke. Du lieferst den heutigen SIGVertretern auch eine neue Entscheidungsgrundlage, indem Du ihnen den Blick für die Vergangenheit schärfst. Ich bin überzeugt, dass wir daraus Erkenntnisse gewinnen, die für die Arbeit des SIG in der Zukunft von grosser Bedeutung sein werden.

In Deiner Dissertation zeichnest Du eine Geschichte des Antisemitismus aus der Sicht des SIG in der Schweiz zwischen 1943 und 1960 nach. Deine Überlegungen setzen inmitten einer auch für den Gemeindebund schwierigen Zeit an: Der Zweite Weltkrieg war in vollem Gange. Im SIG entluden sich innere Spannungen, die zu einem Wechsel im Präsidium und zu einer Statutenrevision führten. Der Gemeindebund gab sich die Strukturen, die ihn auch heute noch prägen. Das Ressort, das zu jener Zeit den Namen „Abwehr und Aufklärung“ trug, war prominent besetzt. Die Geschichte dieses Ressorts, welches heute „Prävention und Information“ heisst, und sein Archiv stehen im Zentrum von Zsolt Keller Darstellungen.

In diesen Krisenzeiten, während denen der SIG auch selber starken antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war, lag das Hauptgewicht seiner Arbeit auf der Abwehr des Antisemitismus. Gefragt waren Juristen und Journalisten. Die Juristen versuchten, den Antisemitismus durch die Behörden verfolgen und durch die Gerichte verurteilen zu lassen. Die Pressestelle des SIG, von Benjamin Sagalowitz geleitet, war bestrebt, durch Gegendarstellungen in der Presse sowie durch die gezielte Verbreitung von Informationen über die Schrecken der Schoa die Öffentlichkeit aufzurütteln. Die blauen Juna-Bulletins, die von der Pressestelle an die Redaktionen verschiedener Schweizer Zeitungen verschickt wurden, bieten hierfür ein eindrückliches Beispiel.

Zsolt Kellers Ausführungen zeigen deutlich, dass der SIG zwar auf antisemitische Äusserungen und Handlungen reagierte, jedoch selten proaktiv agierte. Seine Interventionen hinkten den vielen antisemitischen Verfemungen hinterher. Bei der Vielzahl der antisemitischen Angriffe gegen Flüchtlinge wurde zwar regelmässig bei den zuständigen Behörden interveniert. Eine gleichzeitige Prävention gegen den Antisemitismus fand aber kaum statt, weil dazu die Ressourcen fehlten.

Besonders heikel war es, wenn antisemitisches Gedankengut in verklausulierter Form daherkam. Beispielsweise war in einer Debatte des Zürcher Kantonsrates die Rede von „Drückebergern“, die das Land während gefährlichen Zeiten verlassen hätten. Gemeint waren dabei mehrheitlich Jüdinnen und Juden, die vor der nationalsozialistischen Gefahr nach Übersee geflohen waren. Der von jüdischer Seite erhobene Vorwurf des Antisemitismus wurde mit dem Hinweis abgetan, dass das Wort „Jude“ schliesslich nie gefallen sei. Auf solche Vorkommnisse angemessen zu reagieren, war für den Gemeindebund schwierig. Erhob er Vorwürfe, wurde ihm und der jüdischen Gemeinschaft Überempfindlichkeit vorgeworfen, was dem Antisemitismus Vorschub leisten konnte. Schwieg er aber, so konnte sich das Gift des Antisemitismus ungehindert verbreiten.

Die eidgenössischen Behörden boten – wie schon während der Zeit des Krieges – auch nach der Schoah bei der Verfolgung des Antisemitismus wenig Hilfe. Ihr Verhalten war sogar häufig mehr als befremdend. Zsolt Kellers Beispiele gehen unter die Haut. Für die Bundesanwaltschaft waren Antisemiten Betrunkene oder Verwirrte. Grob judenfeindliche Aktionen, wie vorgedruckte Fahrkarten nach Palästina, dienten in den Augen dieser Verfolgungsbehörde lediglich „Juxzwecken“ – so die Antwort auf eine Intervention des SIG. Eine juristische Verfolgung wurde so verhindert. Der vom SIG eingeschlagene Weg der juristischen Ahndung antisemitischer Vorfälle führte kaum zu Erfolgen.

Bis zu Beginn der 50er Jahre war der Gemeindebund in der politischen Öffentlichkeit wenig bekannt. Die Gründung des Staates Israel änderte dies nachhaltig. Antisemitismus und die Schoah wurden vermehrt zum öffentlichen Thema. Der Gemeindebund wurde zum politischen Sprachrohr des Schweizer Judentums. Der SIG etablierte sich als feste politische Grösse. Er war jedoch auch dem Vorwurf der doppelten Loyalität ausgesetzt. Die Frage, ob man gleichzeitig Jude und Schweizer sein konnte, beschäftigte die eidgenössischen Behörden.

Um die Position der jüdischen Gemeinschaft in Bern besser einzubringen, liess man die guten Kontakte der SIG-Exponenten nach Bern spielen. Der ehemalige SIG-Präsident Georges Brunschvig verfügte über ein weites Beziehungsnetz bis in die obersten Etagen von Bundesbern. Wie nicht sehr zuverlässig jedoch diese Kontakte mit ihren politischen Versprechen waren, zeigt nicht zuletzt das vergebliche Bemühen des SIG, zu Beginn der 1950er Jahre, eine Antirassismus-Strafnorm in der schweizerischen Gesetzgebung zu verankern. Die berechtigten Anliegen des Gemeindebundes wurden zu Gunsten der Meinungs- und Pressefreiheit geopfert.

Die eigentliche Aufklärung, und auch dies ist in Zsolt Kellers Buch nachzulesen, wurde in jenen Jahren von Rabbinern getragen. Sie versuchten durch Auftritte in Radio und Fernsehen, mit Vorträgen an Volkshochschulen sowie mittels Synagogenführungen Informationen über das Judentum zu vermitteln und so Vorurteile abzubauen. Die Exponenten des SIG blieben weitgehend aussen vor. Sie konzentrierten sich vor allem auf den juristischen Kampf.

Zsolt Keller führt uns vor Augen, dass der Gemeindebund dabei zwar häufig geschickt taktierte, bei der Aufklärung jedoch kein konkretes Konzept oder gar eine Vision verfolgte.

Der Antisemitismus verschwand auch nach den Schrecken der Schoah nie. Er artikulierte sich lediglich einmal mehr und einmal weniger prominent. Dies gilt leider heute unverändert.

Dies verlangt vom Gemeindebund stete Wachsamkeit und heute vor allem Präventionsarbeit. In Gesprächen mit den zuständigen Behörden und politischen Parteien bringt der SIG seine diesbezügliche Besorgnis regelmässig zum Ausdruck, versucht Verständnis zu schaffen und so präventiv zu wirken. Diese Tätigkeit wurde besonders in den 90er Jahren während der Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen verstärkt. Der besseren Information diente auch die Lancierung der SIG-Schriftenreihe, die Wissen und Verständnis über die jüdische Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz fördern möchte. Inzwischen sind in dieser Reihe 14 Bände und eine Festschrift erschienen.

Seit der Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges durch die Bergier-Kommission findet in dieser Hinsicht auch im Schulunterricht vermehrt eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust statt. Der SIG hat als Beitrag zum Holocaustunterricht in der Schweiz das audiovisuelle Lehrmittel «ÜberLebenErzählen» herausgebracht. Sechs jüdische Holocaustüberlebende erzählen in Film-Interviews über ihr Schicksal. Dabei hat «ÜberLebenErzählen» zwei Ziele im Auge: einerseits Jugendliche für das geschichtliche Ereignis zu interessieren, und anderseits zur Reflexion über Vorurteile, Rassismus und Antisemitismus sowie zu verantwortungsvollem Handeln in der Gegenwart anzuregen.

Mit der Publikation von Factsheets über das Judentum und die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz hat der SIG den Geist dieser Tradition weitergeführt. Diese in Kurzform aufbereiteten, leicht verständlichen Informationen stehen interessierten Kreisen auf der neu konzipierten Website des SIG zur Verfügung, und werden rege genutzt, was mich und meine Kollegen in der Geschäftsleitung sehr freut.

Der SIG unterhält die Melde- und Beratungsstelle für antisemitische Vorfälle in der deutschen Schweiz, welche zuvor von der Aktion Kinder des Holocaust im Auftrag des SIG geführt wurde. Der SIG veröffentlicht jährlich einen Antisemitismusbericht mit einer Sammlung und einer Analyse der gemeldeten und öffentlich bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle.

Der SIG arbeitet zum Zwecke der Prävention auch mit anderen Organisationen zusammen: Die Kooperation mit der CICAD, die antisemitische Vorfälle in der Westschweiz registriert und Opfer antisemitischer Handlungen unterstützt, sowie die Kooperation mit der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus wurden kontinuierlich ausgeweitet. Zudem konnte der SIG vermehrt über die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, in der er die Vizepräsidentin stellt, auf nationaler Ebene gegen Antisemitismus und Rassismus wirken.

Ein ganz besonderer Meilenstein in der Präventionsarbeit des SIG war die Lancierung des Leadership- und Dialogprojekts Likrat im Jahr 2003. Jüdische Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren erweitern in Workshops mit Fachleuten ihr Wissen über das Judentum und über Israel und werden dabei für spätere Begegnungseinsätze mit Schülern anderer Religionen geschult. Zur Ausbildung gehört auch ein Kommunikationstraining, in welchem die Jugendlichen auf ihre Aufgaben in den Begegnungssituationen sensibilisiert und vorbereitet werden.

Danach gehen die sogenannten Likratinos in Schulklassen, welche zuvor die Themen Judentum und Israel im Schulunterricht behandeln. Durch Begegnungen nichtjüdischer Schüler mit gleichaltrigen jüdischen Kollegen soll das im Schulunterricht erworbene Wissen vertieft werden. Interkulturelles Lernen wird damit gleichzeitig zur Prävention gegen Rassismus und Antisemitismus. Es freut mich sehr, dass seit kurzem Zsolt Keller im Leiterteam von Likrat mitarbeitet. Die Arbeit von Likrat wird durch sein Wissen bereichert. Likrat ist heute ein zentraler Bestandteil der SIG-Arbeit und wird in einer Zeit, in der die Präventionsarbeit immer mehr auf Jugendliche ausgerichtet wird, laufend wichtiger.

Ein weiterer Pfeiler der Präventionsarbeit des SIG ist das direkte Gespräch mit Journalisten, sei es, um diesen Hintergrundinformationen zu vermitteln, sei es zum Zwecke von Interviews mit SIG-Exponenten. Dabei werden auch problematische Beiträge, so vor allem im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Nahostkonflikt, angesprochen, um die Medienschaffenden hinsichtlich der Wirkung solcher Beiträge auf die Leserschaft zu sensibilisieren.

Zudem arbeitet der SIG an neuen Präventionsprojekten. Gemeinsam mit der Plattform der Liberalen Juden der Schweiz sollen ab dem nächsten Jahr eintägige Weiterbildungsreisen für Pädagogen nach Auschwitz angeboten werden. Der SIG plant ferner, unter dem Titel „Judentum: mehr wissen“, Referatsmodule mit fachkundigen Referenten anzubieten. Sie richten sich an nichtjüdische Erwachsene, die sich über das Judentum, die Juden in der Schweiz und Israel informieren möchten.

Wir sind überzeugt, dass Präventionsarbeit in Form von Aufklärung langfristig wichtiger und nachhaltiger ist als Reaktion und Intervention. Vor allem Dialog und Information dienen aufklärend und helfen, Ängste und Vorurteile abzubauen. Letztlich streben wir mit diesen Massnahmen ein friedliches Miteinander der Menschen in diesem Lande an. Der SIG steht in diesem Bestreben glücklicherweise nicht alleine da. Gerade in der heutigen Zeit, wo politische Polarisierung und der Aufbau von Feindbildern zum Alltag gehören, kann in dieser Hinsicht nicht genug getan werden.

Ich danke Ihnen

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