Wednesday, 1. June 2011, Bern

„Tradition ist eine Laterne – der Dumme hält sich an ihr fest, dem Klugen leuchtet sie den Weg.“

Mit diesen Worten, die dem irischen Literatur-Nobelpreisträger George Bernhard Shaw zugeschrieben werden, möchte auch ich Sie ganz herzlich zu unserer Zusammenkunft begrüssen. Liebe Ehrengäste und Delegierte, sehr geehrte Damen und Herren, seien Sie herzlich willkommen!

Der Vorabend unserer Delegiertenversammlung bietet uns jedes Jahr Gelegenheit innezuhalten und zurückzublicken, die Chancen und Herausforderungen auf unserem Weg in die Zukunft zu reflektieren und unter Freunden, Gleichgesinnten und konstruktiven Gesprächspartnern einen anregenden Abend zu verbringen. Ich freue mich, dass Sie uns alle heute mit Ihrer Anwesenheit beehren.

Erlauben Sie mir, ein Mitglied der Jüdischen Gemeinde Bern besonders zu erwähnen: Liebe Frau Odette Brunschvig. Sie sind die Witwe von Georges Brunschvig selig, der von 1946 bis 1973 die Geschicke des SIG leitete, und Sie sind in den letzten sage und schreibe 68 Jahren regelmässig an unsere Delegiertenversammlung gekommen, mit einer einzigen Ausnahme, dem Jahr 2010. Wir schätzen uns sehr glücklich, Sie heute wieder bei uns zu wissen. Vielen herzlichen Dank für Ihre ausserordentliche Treue!

Für ihre inspirierenden Eingangsworte möchte ich Bernhard Pulver, Alexander Tschäppät und Rabbiner David Polnauer bestens danken. Weitere geistige Nahrung verspricht nach meiner kurzen Ansprache die Diskussion zwischen Shlomo Avineri, dem ehemaligen Generaldirektor des israelischen Aussenministeriums, und dem Nahost-Korrespondenten Gil Yaron. Den Abend beschliessen werden wir mit einem weiteren Höhepunkt, der Eintragung ins Goldene Buch des SIG. Mein Vorgänger Alfred Donath selig hat auf vielfältige Weise einen grossen Beitrag für die jüdische Gemeinde in der Schweiz geleistet. Sowohl er als auch alt Bundesrat Pascal Couchepin haben zudem mit ihrem Engagement für den interreligiösen Dialog den Weg für uns geebnet und gewissermassen in die Zukunft geleuchtet. Auf die Ehrung dieser beiden Weggefährten freue ich mich besonders, auch wenn sie mit der Trauer um unseren Freund Alfred Donath verbunden ist. Ich bitte Sie nun um einen Moment der Stille, um seiner zu gedenken.

Die Erinnerung an die Vergangenheit, der Umgang mit der Gegenwart und die Ausrichtung auf die Zukunft sind zentrale Themen jeder gut funktionierenden Gemeinschaft, auch des jüdischen Dachverbands SIG.

Dass konfessionelle Minderheiten in der Schweiz ihre Religion frei ausüben dürfen, ist eine wichtige Errungenschaft der Bundesverfassung von 1874 und reflektiert das liberale Gedankengut unserer Eidgenossenschaft. Ich darf dies nicht nur als SIG-Präsident festhalten, sondern auch als Vertreter des Schweizerischen Rates der Religionen, den ich seit einigen Monaten ebenfalls präsidiere. Zu den erworbenen Rechten gehört, seine Eigenart bewahren und auch zeigen zu dürfen. Denn Integration ist nicht gleich Assimilation, also Gleichmacherei. Wir Jüdinnen und Juden haben in den letzten 150 Jahren durch Geduld und Kompromissbereitschaft erreicht, dass wir ein integraler und voll respektierter Teil der Schweizer Gesellschaft, Politik und Kultur geworden sind und unsere Religion unbehindert leben dürfen.

Übertreiben wir, wenn wir diese Errungenschaft heute als latent gefährdet anschauen? Viele meinen ja. Sie sehen in der Annahme der Minarettverbots-Initiative und gewisser minderheitsfeindlicher Rhetorik keine Vorboten neuer Intoleranz, sondern Ausdruck der Angst vor einer angeblichen Islamisierung.

Persönlich teile ich solche Ängste nicht. Dennoch müssen Befürchtungen vor schädlichen Parallelgesellschaften ernst genommen werden. Der Staat soll die Integration fördern, aber gleichzeitig auch die Anerkennung unserer rechtsstaatlichen Ordnung fordern, und zwar ohne Wenn und Aber. Dazu ist die überwiegende Mehrheit der Musliminnen und Muslime in unserem Land, so bin ich überzeugt, auch bereit.

Die Gefahr, dass durch Volksinitiativen religiöse Grundrechte, wie es so verharmlosend heisst, geritzt oder gar über Bord geworfen werden könnten, ist aus meiner Sicht absolut real. Wir befinden uns in einem Wahljahr, und diffuse Ängste werden bekanntlich gerne instrumentalisiert, um Anhänger zu gewinnen. Dies könnte eine gefährliche Tendenz weiter schüren. Denn wie der Minarett-Initiative keine Flut neuer Minarett-Bauwerke zugrunde lag, so sind auch die Debatten um Kopftücher, Friedhöfe, Knaben-Beschneidung oder Schulabsenzen an religiösen Feiertagen vielfach Scheingefechte, die dem Stimmenfang dienen, oder schlicht das Werk übereifriger Bürokraten.

Trotzdem hoffe ich, dass jene Recht haben, die unsere Befürchtungen für übertrieben halten. Persönlich glaube auch ich letztlich nicht, dass die Schweizer das Mass für das Richtige verlieren werden. Aber im Unterschied zur Religion reicht in der Politik der Glaube allein nicht aus. Deshalb ist es dem SIG ganz wichtig, für diese Problematik in der Medienarbeit und in direkten politischen Gesprächen zu sensibilisieren und sich so für die Wahrung der fundamentalen Grundrechte, insbesondere der Religionsfreiheit, einzusetzen. Denn so können wir wo möglich erreichen, dass unguten Entwicklungen frühzeitig der Boden entzogen wird.

Dies haben wir verschiedentlich getan, z.B. als Exponenten politischer Parteien konfessionelle Friedhöfe oder die Knabenbeschneidung in Frage stellten. Wir suchten den Kontakt und das Gespräch mit den Zuständigen. Dadurch konnten wir informieren und das Verständnis für unsere Anliegen fördern, was zu konkreten Ergebnissen geführt hat. Dies zeigt, dass es nötig ist und durchaus Früchte trägt, klare Positionen zu vertreten und sich aktiv einzubringen.

Wir werden dies auch in der aktuellen Diskussion tun, wenn es darum geht, welche Normen für die Gültigerklärung von Volksinitiativen zu beachten sind. Der SIG vertritt die Auffassung, dass Volksrechte zwar nicht spürbar geschmälert werden dürfen, die fundamentalen Grundrechte aber in jedem Fall gewahrt bleiben müssen. Der Bundesrat hat kürzlich vorgeschlagen, Volksinitiativen künftig einer Vorprüfung hinsichtlich der Verträglichkeit mit dem Völkerrecht zu unterziehen und das Ergebnis dieser Prüfung jeweils auf den Unterschriftenbogen zu publizieren. Zudem sollen Volksinitiativen, die den so genannten „Kerngehalt“ der Grundrechte der Bundesverfassung verletzen, als ungültig erklärt werden können. Dieses Konzept geht in die richtige Richtung, und wir begrüssen es, dass dieses Thema nun umfassend diskutiert und hoffentlich befriedigend geklärt wird.

Ein weiteres Thema, das unsere Beschäftigung mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zum Ausdruck bringt – und zwar wie kein zweites – ist Israel. Für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt ist Israel das religiöse, historische und kulturelle Zentrum sowie das Wahrzeichen unserer Selbstbestimmung und unserer jüdischen Identität. Wir fühlen uns Israel tief verbunden, ohne dass dadurch unsere Zugehörigkeit zur Schweiz im Geringsten in Frage gestellt wäre.

Viele von uns Juden machen sich derzeit grösste Sorgen um die Entwicklung in Nahost. Die Region ist in einem fundamentalen Umbruch begriffen. So sehr wir den Ruf nach mehr Volksrechten und Demokratie in den arabischen Ländern unterstützen, so sehr beschäftigt uns die damit verbundene Destabilisierung. Gerade die Demokratisierungstendenzen in Nahost führen uns eindrücklich vor Augen, dass das 1948 gegründete Israel einen demokratischen Rechtsstaat errichtet hat, der es geschafft hat, innerhalb weniger Jahrzehnte , erfolgreich Millionen von Menschen zu integrieren. Dies erfüllt uns mit Stolz und hat den Juden, auch jenen in der Diaspora, das Selbstbewusstsein gestärkt.

Wird der Ruf nach Reformen in den arabischen Ländern nachhaltig und von Erfolg gekrönt sein? Können Rückschläge aufgefangen werden? Wie setzen sich künftig die Machtstrukturen zusammen? Was wird die Rolle extremer islamistischer Gruppierungen sein? All diese Fragen sind heute unbeantwortet, und dies bedeutet Unsicherheit für die ganze Welt, ganz besonders für Israel. Und im Hinblick auf die Bemühungen nun eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts stimmt auch die kürzlich erfolgte Versöhnung zwischen der Fatah-Bewegung und der Hamas, die in ihrer Charta nach wie vor die Zerstörung des Staates Israel postuliert, wenig optimistisch.

Bedrückend ist auch weiterhin, wie in der Schweiz mit der Nahostfrage umgegangen wird. Wir müssen feststellen, dass Israel von Politik und Medien nach wie vor oft als allein konflikttreibende Partei dargestellt wird. Das Sicherheitsbedürfnis der Israeli, das seit Jahrzehnten auf die Probe gestellt wird, findet in der öffentlichen Debatte hingegen kaum Beachtung, und der Gesamtkontext wird gerne aussen vor gelassen. Dazu sind auch Aufrufe laut geworden, Produkte, Wissenschaftler oder Kulturschaffende aus Israel zu boykottieren oder dem Land den Zugang zu internationalen Organisationen zu verweigern.

Solche Aktionen sind nicht nur tief verletzend, sondern auch unter historischen, politischen und überhaupt jeglichen Gesichtspunkten befremdlich. Ich möchte in diesem Zusammenhang an Parteien, NGOs, aber auch an die Kirchen appellieren, solche Äusserungen vereinzelter ihrer Exponenten zu hinterfragen und zu verurteilen. Sie haben in einer sachlichen, fairen Debatte nichts zu suchen.

Wann immer sich die Situation im Nahen Osten verschärft, nehmen leider auch antisemitische Tendenzen wieder zu. Auf den betrüblichen Umstand, dass Judenfeindlichkeit und Israelkritik derart vermischt werden, habe ich schon oft hingewiesen. Wie Sie wissen, ist der SIG in der Antisemitismus-Prävention, vor allem durch Aufklärung, sehr aktiv. Nach der Cicad im Welschland bietet der SIG nun zusammen mit der Plattform der Liberalen Juden der Schweiz auch in der Deutschschweiz Lehrkräften die Möglichkeit, an eintägigen Weiterbildungsreisen nach Auschwitz teilzunehmen. Die erste Reise wird im November durchgeführt, und erfreulicherweise stossen wir mit unserem Angebot auf reges Interesse.

Verehrte Damen und Herren, liebe Gäste. Ob unter dem Titel Gesellschaftspolitik, Israel oder Antisemitismus, dies alles sind Themen, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben, uns heute beschäftigen und für unseren weiteren Weg von Bedeutung sind. Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung zum Stichwort Zukunft. Auch der SIG als Organisation muss seine Zukunftsfähigkeit immer wieder unter Beweis stellen und sich entsprechend ab und zu selbst hinterfragen. Sind die Ziele, die wir verfolgen, noch relevant? Kümmern wir uns um die richtigen Themen? Fühlen sich unsere Mitglieder mit dem, was wir anbieten, angesprochen? Um diese Fragen sinnvoll zu beantworten und die Weichen für die nächsten Jahre richtig zu stellen, müssen wir auch jene einbeziehen, für die wir diese Arbeit machen.

Alter steht für Erfahrung, und nicht umsonst wünschen wir Juden uns gegenseitig zum Geburtstag, dass wir 120 Jahre alt werden mögen. Zur Erörterung der Zukunftsfragen haben wir uns in der Geschäftsleitung und im Centralcomité jedoch entschieden, nicht in Ehrfurcht vor unserer eigenen Weisheit zu erstarren, sondern vermehrt auch junge Frauen und Männer einzubeziehen. In den bisher geführten Workshops waren wir vom Engagement der involvierten jungen Erwachsenen sehr beeindruckt. Wir haben auch schon einige Erkenntnisse gewonnen, zum Beispiel, dass der SIG künftig auch gewisse der heute zur Verfügung stehenden elektronischen sozialen Netzwerke zur Kommunikation und zum Austausch nutzen wird. Dabei allein soll es aber natürlich nicht bleiben. Wir werden an der morgigen Delegiertenversammlung einige konkrete Anträge stellen und dann die Arbeit in den nächsten Monaten fortsetzen. In einem Jahr wollen wir Ihnen die konkret erfolgten Schritte präsentieren. Denn der SIG soll auch für die kommende Generation attraktiv sein!

Lassen Sie mich zum Schluss allen, die in den Gremien des SIG Freiwilligenarbeit leisten, für ihren grossen Einsatz und ihr Engagement ganz herzlich danken. Danken möchte ich insbesondere auch dem Organisationskomitee des heutigen Abends sowie unseren Freunden der Jüdischen Gemeinde Bern, die uns in unserer schönen Hauptstadt Gastfreundschaft gewähren.

Ich schliesse mit denselben Worten, mit denen ich auch in den letzten Jahren meine Rede beendet habe: „Mazel und Broche“ heisst „Glück und Segen“, und es ist der Spruch, den wir Juden auf der ganzen Welt verwenden, um uns gegenseitig alles Gute für die Zukunft zu wünschen. Nun lassen Sie mich „Mazel und Broche“ Ihnen allen zurufen. Ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihren Aktivitäten, und weitere konstruktive Kontakte unter uns allen

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